Diagnose: Aufschieberitis

12.12.2018
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Kennen Sie das? Sie wissen ganz genau, dass Sie Ihre Steuererklärung für den Steuerberater noch vorbereiten müssen, dass die Institutswäsche noch nicht gewaschen ist und Ihre Familie am Wochenende ein Drei-Gänge-Menü von Ihnen erwartet, weil Ihre Schwiegereltern zu Besuch kommen. Allerdings haben Sie nicht die geringste Lust, etwas davon in Angriff zu nehmen und schieben es deshalb immer weiter vor sich her – und schon sind Sie von einer jahrhundertealten „Krankheit“ befallen, der Prokrastination.

Wikipedia bringt es auf den Punkt:

„Prokrastination (lateinisch: procrastinare = „vertagen“) auch extremes Aufschieben, ist eine Arbeitsstörung, die durch ein nicht nötiges Vertagen des Arbeitsbeginns oder auch durch sehr häufiges Unterbrechen des Arbeitens gekennzeichnet ist, sodass ein Fertigstellen der Aufgaben gar nicht oder nur unter enormem Druck zustande kommt. Dies geht fast immer mit einem beträchtlichen Leidensdruck einher.“

Hierbei müssen wir allerdings unterscheiden zwischen alltäglichem Trödeln, das wir alle kennen und gelegentlich praktizieren, dem Priorisieren und dem erfolgreichen Arbeiten unter Zeitdruck. Obwohl man Prokrastination auch oft als „Studentensyndrom“ bezeichnet, kommt sie wesentlich häufiger bei selbstständig arbeitenden Personen vor (z.B. Unternehmern, Journalisten,…). Pathologisches, also krankhaftes Aufschieben bewirkt bei den Betroffenen meist einen hohen Leidensdruck und kann ohne Hilfe durch einen geschulten Psychotherapeuten oft nicht bewältigt werden.

7 Phasen der Prokrastination

Die Aufschieberitis, die uns alle immer wieder einmal überfällt, ist meistens nicht pathologisch, nervt aber trotzdem sehr. Denn je näher die Deadline rückt, desto größer und erdrückender erscheint die Aufgabe. Es ist wie mit der Besteigung eines Berges. Von weitem sieht er eher wie ein kleiner Hügel aus – den schaffen wir schon, gar kein Problem. Wenn wir näher kommen, „wächst“ der kleine Hügel zusehends und stehen wir an seinem Fuß, dann verlässt uns der Mut und die Tatkraft.

Es gibt sieben Stationen der Prokrastination. Schauen wir sie uns einmal am Beispiel der Steuererklärung an.

1 Falsche Sicherheit

Ach, die Frist ist noch soooo lange hin. Es macht gar keinen Sinn, wenn ich jetzt schon damit anfange. Da entspanne ich mich jetzt lieber ein bisschen.

2 Müßiggang

Vielleicht sollte ich jetzt wenigstens mal anfangen. Ich muss die Formulare ja nicht alle heute zu Ende bringen. Es ist noch Zeit. Ach nein, es ist so schön draußen, da gehe ich lieber spazieren oder spiele mit den Kindern.

3 Ausreden

Nein, jetzt kann ich das unmöglich dazwischenschieben. Ich bin dermaßen im Stress, dass ich dafür nun wirklich keine Zeit habe. Eine Steuererklärung kann man nicht mal eben zwischendurch erledigen. Die braucht ihre Zeit. Und gerade jetzt brauche ich eine Pause.

4 Verleugnung

Keine Panik – es ist immer noch mehr als genug Zeit, um alles auszufüllen und zum Steuerberater zu bringen. So ein kleines bisschen Zeitdruck ist ja ganz förderlich. Außerdem brauche ich keinen Schlaf.

5 Krise

Hilfe, morgen muss die Steuererklärung fertig sein! Wie konnte die Zeit nur so schnell vergehen! Ich muss eine Nachtschicht einlegen. Hoffentlich reicht es noch!

6 Hyperkrise

Nie, nie, nie wieder schiebe ich etwas auf! Jetzt muss der Steuerberater beim Finanzamt um eine Fristverlängerung bitten – wie peinlich!

7 Endlich fertig

Uff, das war ein harter Brocken! Jetzt ist die Steuererklärung fertig – beinahe hätte ich auch noch die Fristverlängerung überschritten. Den Schwarzen Peter hat jetzt mein Steuerberater, denn der muss nun alles rechtzeitig überprüft und eingereicht haben. Wie peinlich!

Sie sehen, die Sache entwickelt schon mit dem ersten Verschieben eine Eigendynamik, die später nur schwer durchbrochen werden kann.

Gründe für Aufschieberitis

Es gibt die verschiedensten Gründe, warum Menschen zu Aufschiebern werden, z.B.:

  • Wir wissen, wie lange und mühsam eine Tätigkeit wird – deswegen haben wir keine Motivation, anzufangen.
  • Eine unangenehme Tätigkeit wird von uns verlangt – und wir wollen sie aus Trotz nicht in Angriff nehmen.
  • Wir haben mit dieser Tätigkeit schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht – und alles in uns sträubt sich dagegen.
  • Wir sehen in dieser Tätigkeit keinen Sinn – und ahnen, wir werden nicht mit einem Erfolgserlebnis belohnt.

Leiden Sie unter Aufschieberitis?

Das lässt sich mit wenigen Fragen an sich selbst leicht herausfinden:

  • Neigen Sie dazu, unangenehme Arbeiten erst einmal vor sich herzuschieben?
  • Haben Sie dabei ein schlechtes Gewissen?
  • Machen Sie lieber erst unwichtige, aber angenehme Dinge, um den unangenehmen aus dem Weg zu gehen?
  • Gibt es bei Ihnen Aufgaben, die seit mehr als drei Wochen immer wieder verschoben werden?
  • Haben Sie zurzeit mehr als drei Arbeiten, die Sie einfach nicht beginnen wollen?

Wenn Sie hier mehrmals Ja sagen mussten, besteht die Gefahr, dass Sie wirklich gerne prokrastinieren.

Ursachen herausfinden

Nun wissen Sie also, dass es da ein kleines Problem gibt. Und welche Gegenstrategien können Sie entwickeln? Um gegen die Prokrastination vorzugehen, stellen Sie sich erneut einige Fragen, um herauszufinden, welche Ursachen Ihnen die Erledigung dieser Aufgaben erschwerten:

  • Was genau hält mich von der Vorbereitung der Steuererklärung (um in unserem Beispiel zu bleiben) ab?
  • Welchen Nutzen könnte Ihnen das Aufschieben der Steuererklärung bringen?
  • Wie fühlt es sich an, die Steuererklärung immer wieder aufzuschieben?
  • Was ist wohl größer – die Unlust vor der Steuererklärung oder die Gefahr, Ärger mit dem Finanzamt zu bekommen?
  • Wie wird es sich anfühlen, wenn Sie die vorbereitete Steuererklärung noch in dieser Woche an Ihren Steuerberater geben können?
  • Warum erledigen Sie andere Arbeiten, z.B. die Wocheninventur zur Vorbereitung Ihrer Warenbestellung, viel lieber als die Steuererklärung?

Wenn Sie bemerken, dass Sie sich schon beim Aufschieben überlegen, warum Sie denn nun nicht gleich anfangen wollen, dann ist das ein erstes Anzeichen, dass Ihre Aufschieberitis im Kopf beginnt. Beantworten Sie die o.g. Fragen ehrlich und schauen Sie, ob Sie nicht ein Muster oder ein Motiv erkennen, das Ihnen die eine Arbeit verleidet und die andere sozusagen schmackhaft macht.

Aufschieberitis bekämpfen

Der Mensch ist und bleibt ein Gewohnheitstier! Und Ihre Gewohnheit, vieles aufzuschieben, können Sie mit einigen kleinen Änderungen in Ihren Verhaltensmustern durchbrechen:

  • Fangen Sie gleich an!
  • Erledigen Sie die unangenehmste Tätigkeit immer zuerst!
  • Teilen Sie Berge von Arbeit in „mundgerechte Häppchen“ auf und erledigen Sie dann eines nach dem anderen!
  • Nutzen Sie die Macht Ihrer Gedanken – wenn Sie sich genau vorstellen, wie sich die erledigte Arbeit anfühlen wird, fällt es Ihnen leichter loszulegen!
  • Ersticken Sie nicht in Perfektion – konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche!
  • Beachten Sie Ihren ureigenen Biorhythmus – Nachteulen werden morgens um sieben Uhr nicht wirklich leistungsfähig sein!
  • Lassen Sie sich bei unangenehmen Tätigkeiten nicht ablenken – weder von Kunden noch von Familie oder Telefon/Handy!
  • Setzen Sie sich (wenn Sie mit ein wenig Druck besser arbeiten können) ein Zeitlimit – innerhalb dessen die Arbeit erledigt sein muss!
  • Belügen Sie sich nicht selbst – Sie wissen doch genau, dass die Schmuckkollektion eine Ausrede ist, um nicht mit den Buchungsbelegen anfangen zu müssen!
  • Priorisieren Sie Ihre Aufgaben – und delegieren Sie möglichst viele derjenigen, die Sie nicht wirklich selbst erledigen müssen!
  • Planen Sie immer Pausen ein – Körper und Geist brauchen das!
  • Loben Sie sich selbst, wenn Sie die Vorbereitung der Steuererklärung endlich geschafft haben – auch und gerade, wenn es kein anderer tut!
  • Akzeptieren Sie, dass Ihre Selbstständigkeit auch Buchführung und Steuern beinhaltet – sonst könnten Sie nicht wirklich belegen, wie erfolgreich Sie sind!
  • Belohnen Sie sich, wenn Sie den Steuerordner schließen und Ihrem Steuerberater übergeben können – das haben Sie verdient!

Erfolg hat drei Buchstaben: TUN! Das wusste schon Johann Wolfgang von Goethe. Übrigens: „Eines Tages wirst Du aufwachen und keine Zeit mehr haben für die Dinge, die Du immer tun wolltest. TU SIE JETZT!“, sagte schon Paul Coelho.

In diesem Sinne – geben wir uns einen herzhaften Ruck und fassen den Stier bei den Hörnern. Denn wer will uns verbieten, uns ausgiebig zu feiern und uns selbst dieses tolle, neue Parfum zu schenken, wenn wir alles erledigt haben?

Claudia Gesang - Die gelernte Industriekauffrau, Kosmetikerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie ist Dozentin an der Mainzer Privaten Berufsfachschule für Wellness-Kosmetik. Außerdem ist sie als Seminarleiterin, Autorin und Fachreferentin tätig.

www.claudia-gesang-balance.de

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